it takes time to build and a second to wreck it

Eiko Grimberg, Susanne Keichel, Anton Roland Laub, Eva Leitolf, Oliver Ressler, Julian Röder

+

1 / 6

1 / 6

2022 befindet sich Europa in einer Krise. Durch eine Pandemie, durch Krieg, Migration und durch Klima­erwärmung ausgelöst, gilt diese Situation als historische Zeitenwende oder auch als Kipp-Punkt in der erd­klimatischen Entwicklung. Fotografien sind allerorten zum zentralen Kommunikations­mittel geworden, sei es in politischer Inszenierung, in der Bericht­erstattung oder auf den Social-Media-Kanälen. Bilder, die schneller zirkulieren, als sie verifiziert werden können, vermitteln ihre Botschaften sehr viel unmittelbarer und effektiver als Texte.

Aber während die Geschwindigkeit der Kommentare und der impulsiven Reaktionen darauf kaum noch nachvollziehbar ist, behaupten sich im künstlerischen Feld Positionen, die langfristig – oft über Jahre hinweg – einem Thema folgen und sich den Luxus des Nachdenkens und der Recherche erlauben. Das Ergebnis sind konzentrierte Serien, die differenzierte Zusammenhänge und Kontexte herstellen.

Reisen und Forschungen bilden die Arbeits­grundlage für die in der Ausstellung it takes time to build – and a second to wreck it vorgestellten Künstlerinnen und Künstler. Sie haben gemeinsam, dass sie seriell mit dem fotografischen Medium arbeiten und sich einem Gegenstand langfristig verpflichtet fühlen. Sie untersuchen ihr Thema nicht nur sehr genau, sondern verfolgen Veränderungen und finden visuelle Übersetzung für gesellschaftliche Entwicklungen. Sie begeben sich an Orte, die nicht allen offenstehen, aber als Austragungs­orte Konflikte an die Oberfläche treten lassen. Anders als bei investigativen Dokumentar­fotografien räumen sie allerdings auch Möglichkeiten ein, das Bild anzuzweifeln. Es sind subjektive Bilder und Zusammenhänge, die sie anbieten. Die Fotografien beweisen hier nichts, sie eröffnen einen gedanklichen Freiraum und laden zum Nachdenken über die Verfasstheit europäischer Gesellschaften ein.

Eiko Grimberg (*1971 Karlsruhe) lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2011 beobachtet Eiko Grimberg den umstrittenen Neubau des Berliner Schlosses, der 2021 mit der Eröffnung des Humboldt-Forums einen aktuellen Abschluss fand. In seiner Werkserie Rückschaufehler inszeniert Eiko Grimberg verschiedene historische Schichten, Reste der Vorgängerbauten, die sich nach wie vor in Berlin befinden. Die Suche nach Spolien führt ihn in verschiedene Depots, auf Baustellen und vor allem in den Tierpark Friedrichsfelde. Dabei entsteht ein Essay, in dem Fragmente der DDR- und der BRD-Geschichte ebenso auftauchen wie der National­sozialismus und das Kaiserreich. Immer wieder fokussiert Grimberg architektonische Übergänge und Brüche, sammelt Anek­doten und stellt fotografische Parallelen her, die stellenweise zu abstrus erscheinen, um glaubhaft zu wirken. Es bleibt letztlich unklar, ob wir einer gründlichen Recherche oder der Sehnsucht folgen, Geschichte umzuschreiben.

Susanne Keichel (*1981 Dresden) lebt und arbeitet in Dresden. Seit sich im Sommer 2015 Hundert­tausende von Menschen über das Mittelmeer und die Balkan­route auf den lebens­gefährlichen Weg nach Europa gemacht haben, beschäftigt sich Susanne Keichel mit Migration – vor allem mit den Bildern, die in den Medien zur Migration zirkulieren. Zwei Bildmuster dominieren dieses Thema: zum einen die Visualisierung eines anonymen „Flüchtlings­stroms“, zum anderen ergreifende Einzel­szenen, die Trauer, Erschöpfung und Hoffnungs­losigkeit inszenieren. Keichel will Abstand von diesen Bildklischees nehmen, ohne das Thema zu ignorieren. Sie sucht Orte auf, an denen Geflüchtete untergebracht werden, sie beobachtet Demonstrationen und fotografiert in Gerichtssälen. Aber ihre kleinformatigen Analog-Fotografien bieten nicht den linearen Charakter einer Reportage, sie zeigen auch nur selten Menschen. Stattdessen sammelt sie Gegenwarts­fragmente, die exemplarisch für eine gesellschaftliche Atmosphäre und Stimmung in Deutschland stehen können.

Anton Roland Laub (*1974 Bukarest) lebt und arbeitet in Berlin. Anton Roland Laub ist in Bukarest geboren und aufgewachsen. Er hat in dieser Stadt eine Phase erlebt, in der unter dem Schlagwort „Systematisierung“ ein Drittel des historischen Zentrums abgerissen wurde, um breite Alleen zu Ehren des Ceaușescu-Regimes zu ziehen. In einer sehr religiös geprägten Gesellschaft machte diese Abrisskultur selbst vor Kirchen­bauten nicht halt. Aber sieben Kirchen blieben von diesem Kahlschlag verschont, wobei ihnen eine absurde Behandlung widerfuhr: Auf Schienen gehoben wurden sie versetzt und hinter Wohn­blöcken versteckt. Anton Roland Laub zeigt in der Serie Mobile Churches, wie sich Macht in Architekturen ausdrückt.

Eva Leitolf (*1966 Würzburg) lebt und arbeitet in Bozen und im Chiemgau. In ihrer Arbeit Postcards from Europe untersucht Eva Leitolf den Umgang der Europäischen Union mit ihren Außen­grenzen. Dabei bringt sie Bilder und Texte zusammen, die ganz unterschiedliche Botschaften vermitteln. Während die Fotografien häufig alltägliche Landschaften und banale Details zeigen, beschreiben die sorgfältig recherchierten Texte zurückliegende Konflikte. Medien­berichte, Polizeiakten, Presse­mitteilungen, Vor-Ort-Recherchen und Interviews bilden die Grundlage für ihre Texte. Die Spannung zwischen den oft dramatischen Vorfällen und den ereignisarmen Bildern wirft letztlich Fragen nach einem Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart, von vermittelter Erzählung und gelebter Erfahrung auf.

Oliver Ressler (*1970 Knittelfeld) lebt und arbeitet in Wien. Oliver Ressler setzt sich in seinen Arbeiten intensiv mit der Klima­erwärmung auseinander und rückt Protest­bewegungen in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Praxis. Sowohl der Hambacher Forst als auch Diskussions- und Organisations­formen von internationalen Widerstands­bewegungen wie Legal Sol, Extinction Rebellion, Climacció und Fridays for Future werden in seinen Videos reflektiert. Darüber hinaus entwirft Ressler Zukunfts­prognosen. In der Serie Reclaiming Abundance portraitiert er Infrastrukturen in Österreich, die mit fossilen Energieformen und der Produktion von CO2 verbunden sind. Ressler entwickelt für diese Standorte alternative Zukunfts­perspektiven. Wie sieht die Nutzung dieser Gelände 2050 aus, nachdem die globalen Temperaturen weiter gestiegen und die entsprechenden Katastrophen ausgelöst haben? Oliver Ressler inszeniert damit die Kipp-Situation, in der wir uns global befinden und schafft Zukunfts­szenarien, für die wir uns heute entscheiden müssen.

Julian Röder (*1981 Erfurt) lebt und arbeitet in Berlin. Julian Röder hat sich in seinen Recherchen auf die exekutive Gewalt konzentriert. In Serien wie Mission and Task oder World of Warfare setzt er Apparate des Grenz­schutzes und den Waffen­handel ins Bild. Er zeigt damit konkrete Praktiken und Orte, an denen sich Politik, Militär und Ökonomie treffen und von aufgeklärten, westlichen Gesellschaften kultiviert werden. Es ist eine irritierende Gleichzeitigkeit von technischer Innovation, beruflichem Alltagsgeschäft, Gewinn­maximierung und organisierter Destruktion, die in diesen Werkserien Ausdruck findet.

Die Ausstellung wird unterstützt von der Stiftung Niedersachsen, der Katrin und Uwe Hollweg Stiftung und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.